„Ich glaube nicht an Happy Ends“

Tania Witte kenne ich schon seit Sommer 2018. Nachdem ich im Mai letzten Jahres ihr Buch „Die Stille zwischen den Sekunden“ gelesen und rezensiert habe, schreiben wir uns regelmäßig zu allen möglichen Themen, was immer sehr spannend und oft auch mega lustig ist. Fun Fact: Ihre Jugendbücher sind dagegen gar nicht lustig, sondern berührend und spannend. Bei beiden war ich am Ende fertig mit den Nerven…🙈 Darum war ich auch echt neugierig auf unser erstes persönliches Treffen. Und das war so nett! Insgesamt drei Stunden haben wir  zusammen gesessen – und ich glaube, wir hätten auch noch weitere drei Stunden quatschen können. Aber auch so war es schon das längste Interview von allen, die ich bisher geführt habe. Und ganz sicher eines der interessantesten.  Aber – lest selbst!

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Foto: Carina Nitsche

Tania Witte wurde in Trier geboren. Ihre ersten drei Romane schrieb sie für Erwachsene; inzwischen hat sie auch zwei Jugendbücher veröffentlicht: „Der Schein“ – gemeinsam mit Antje Wagner unter dem offenen Pseudonym Ella Blix –, sowie „Die Stille zwischen den Sekunden“. Tania gewann mehrere Preise und Stipendien, u.a. erhielt sie 2019 den angesehenen „Mannheimer Feuergriffel“.

 

Hey Tania, du bist nach längerer Zeit mal wieder in Berlin. Wie ist das für dich? Das ist wie immer ein bisschen fremdartig und gleichzeitig fühlt es sich wie Zuhause an. Aber immer wenn ich hier bin, fällt mir auf, wie voll es ist und wie sehr es sich verändert. Meine Augen öffnen sich und ich sehe viel Armut. Ich sehe viele Menschen, die auf der Straße schlafen, was mir gar nicht so auffällt, wenn ich jeden Tag hier bin. Man lernt schnell, darüber hinweg zu gucken, was ich traurig finde. Toll ist es für mich immer, meine Freund*innen wiederzusehen. Das macht mich sehr glücklich.

Du lebst an zwei Orten. Warum? Berlin ist mein Hauptwohnsitz und ich hänge sehr daran. Ich habe viele gute Freund*innen hier, mit denen ich mich gerne austausche, das ist sehr inspirierend. Nach Den Haag hat mich die Liebe getrieben. Auch dort bin ich sehr gerne, weil ich da mehr zur Ruhe komme. Ich liebe beide Städte, und das ist wunderschön. Durch meine Lesereisen bin ich aber auch immer wieder an anderen Orten.

Wie schaffst Du es, das Leben an zwei Orten unter einen Hut zu bekommen? Das ist immer eine Umstellung, klar, aber das hält auch den Kopf wach. Logistisch ist das nicht immer einfach. Manchmal würde ich mir wünschen, ich hätte ein einziges Zuhause, und alles wäre an einem Ort. Aber so ist mein Leben halt nicht – und ich mag das auch.

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Wie bist Du zum Schreiben gekommen?  Zum Schreiben kommt man durch Lesen und ich hatte das Privileg, in einem Haushalt mit vielen Bücherregalen aufzuwachsen, aus denen ich mich bedienen konnte. Ich glaube, das eröffnet dann auch überhaupt die Möglichkeit, Schriftstellerin zu werden. Ich wollte immer schreiben, aber meine Eltern meinten, ich solle was Ordentliches lernen. Darum wollte ich erst mal Psychologin werden.

Und hast Du das auch gemacht?  Nein, denn für einen Studienplatz in Psychologie brauchte man ein sehr gutes Abitur mit Einskommairgendwas, das hatte ich nicht. Darum habe ich Medienpädagogik studiert. Da musste ich auch Seminare in Psychologie belegen. Das hilft mir jetzt sehr, denn in meinen Büchern geht es auch um Psychologie. Das ist mir wichtig …

 Warum? …  weil mich Menschen interessieren. Menschen ohne psychologische Hintergründe zu analysieren oder darzustellen, das macht sie eindimensional. Ich finde, um in die Tiefe zu gehen, muss man den gesamten Menschen zu erfassen versuchen. Dabei hat mir mein Studium schon geholfen. Ich bin sehr glücklich mit meinem Leben, wie es ist, auch wenn es nicht immer leicht ist.

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 Wolltest Du als Kind auch schon Autorin werden?  Mit dem Schreiben habe ich angefangen, als ich noch ganz klein war. Ich habe Gedichte geschrieben, Tagebuch und Märchen. Das heißt – ja, ich wollte schon früh Geschichten erzählen. Dass man das auch beruflich machen kann, das ist mir erst sehr viel später klar geworden (lacht).

 Bevor Du angefangen hast, Bücher für Jugendliche zu schreiben, hast du eine Trilogie für Erwachsene veröffentlicht. Worum geht es darin?  Es geht um eine Gruppe Freund*innen in Berlin, ihre Leben, die Stolpersteine auf der Suche nach sich selbst und einem Platz in der Gesellschaft. Grob runtergebrochen.

 Deine Erwachsenen-Bücher sind bei einem kleinen Berliner Verlag erschienen. Wie hast Du von dort den Sprung zu Arena und in den Jugendbuchbereich geschafft?  Nach der Trilogie wollte ich etwas Neues machen. Und dann hat mich meine Kollegin Antje Wagner gefragt, ob ich für eine Anthologie, die sie herausgab, eine Kurzgeschichte schreiben wollte. Die Zielgruppe waren Jugendliche. Da war ich erst mal unsicher, aber dann dachte ich: Ja, klar, diese Herausforderung nehme ich an. Ich schrieb die Kurzgeschichte „Metamorphose“ und sie erschien in „Unicorns don’t swim“. Antje fand sie toll. Wir mochten beide Alina als Person sehr gerne und dieses Gefühl von einer verschwundenen Mutter, die einfach weg ist, und von der Leere, die das hinterlässt …

Alina, so heißt auch die Hauptperson in Eurem Buch „Der Schein“. Und auch deren Mutter ist verschwunden …  Genau! Antje sagte dann nämlich: Du musst einen Roman draus machen. Ich dachte: Naja. Für mich war die Geschichte fertig. Aber ich mochte Antjes Art zu schreiben und sie mochte meine offensichtlich auch. Also haben wir aus Spaß angefangen, ein paar Ideen auf den Tisch zu werfen. Und dann haben wir tatsächlich gemeinsam ein Buch geschrieben und dabei fast alles verändert.

Und das wurde dann „Der Schein“? Das Buch, das ihr gemeinsam unter dem Pseudonym Ella Blix herausgegeben habt? Ja. Aus meiner Ursprungsgeschichte sind aber nur Alina und das Gefühl des Verlustes geblieben. Das Manuskript haben wir dann unserer Agentin gegeben und sind bei Arena gelandet. So hat das geklappt. Es war harte Arbeit. Und ich hatte das Glück, eine wunderbare Co-Autorin zu haben, die gesagt hat: Du solltest Jugendbücher machen! Jugendbücher sind toll! Du kannst das!

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„Der Schein“ erschien 2018 beim Arena-Verlag

 Und jetzt schreibst du eines nach dem anderen. Was gefällt Dir daran?  Ich glaube, viele Menschen haben Jugendliche lange unterschätzt. Inzwischen ist das wahrscheinlich nicht mehr so (lacht). Ich persönlich war schon immer der Meinung, dass man Jugendliche niemals unterschätzen sollte. Und ich finde, Ihr seid einfach eine ganz tolle „Zielgruppe“. Ihr seid die Zukunft! Das klingt pathetisch, aber so ist es. Ich will eine mir wichtige Botschaft in einem spannenden Setting rüberbringen können – und bestenfalls dabei die Menschen unterhalten. Und das Ganze mit Tiefgang und mit gesellschaftspolitischer Wachheit. Darum für Jugendliche.

Als ich „Die Stille zwischen den Sekunden“ las, hatte ich oft das Gefühl, die Geschichte durch die Augen von Jugendlichen mitzuerleben. Wie schaffst Du das? Ja, das hattest du damals in deiner Rezension geschrieben – und das ist eines der größten Komplimente, die ich im Zuge dieses Buches bekommen habe. Ich habe mich darüber sehr gefreut, weil ich nichts schlimmer finde als Menschen, die sich jugendlich ausdrücken wollen, das aber nicht können. Danke! Und wie ich das mache? Na, ich höre Jugendlichen einfach sehr gerne zu und nehme sie ernst. Ich treffe auf meinen Lesungen ja sehr viele. Außerdem war ich auch mal jugendlich (lacht). Wir hatten zwar einen anderen Wortschatz und keine Handys, aber ich habe die Zeit nicht vergessen und verbinde noch große Gefühle damit.

Warum spielt die Stille eigentlich ausgerechnet in Hannover und nicht – zum Beispiel – in Berlin? Am Anfang hatte ich es tatsächlich dort angesetzt und dann habe ich gedacht, na ja, eigentlich passt das auch nicht. Es passt nicht, dass immer alles in Berlin stattfindet, dieser großen bösen Stadt, an der sich alle Leute so gerne abarbeiten. Die ganzen Angriffe und Anschläge waren damals auch eher in kleinen Städten und in Regionalexpressen. Deshalb habe ich gedacht: Warum nicht Hannover? Ich habe mal in der Nähe von Hannover gewohnt, die Stadt ist mir also bekannt. Und dann habe ich ein Stipendium vom Land Niedersachsen bekommen, das hat meine Entscheidung bestätigt.

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„Die Stille zwischen den Sekunden“ erschien 2019

Hast Du darin eine Lieblingsfigur? Ach Mirai, ich liebe sie alle! Ich mag Mara in ihrer Gebrochenheit. Ich liebe Sirîn. Sie ist eine ganz wunderbare Person, die alles umarmt. Die selbst in ihrem Glauben so fest ist, aber trotzdem offen bleibt für alles andere. Das ist ein bisschen meine Idealwelt. Ich finde auch die Mutter ganz toll, die so gerne eine gute Mutter sein will und doch scheitert. Und Chriso mag ich auch. Ich glaube, er hat noch einen langen Lernweg vor sich, auch wenn er ein süßer Typ ist. Aber wenn ich mich entscheiden müsste, dann wäre Sirîn meine Lieblingsfigur.

Wie bist Du auf die Idee zu dem Buch gekommen? Damals gab es mehrere Anschläge in Zügen und ich bin ja selbst ständig mit Zügen unterwegs. Da habe ich mich oft gefragt, was wäre, wenn das jetzt mal in dem passieren würde, in dem ich gerade sitze? Und zweitens kannte ich in Berlin eine tolle junge Frau. Die war sehr gläubig, mit Reise nach Mekka und regelmäßigen Moscheebesuchen und allem drum und dran. Und eines Tages stand sie in einem roten Hijab vor meiner Tür und sagte: „Hallo, ich bin der Nikolaus und ich habe Kekse gebacken“. Von dem Moment an habe ich sie wirklich geliebt, weil ich dachte, wie toll ist das, wenn jemand seine eigene Religion so intensiv betreibt und trotzdem offen bleibt für die von anderen – und dabei so liebevoll ist? Und mir war klar, so eine Figur würde ich gerne mal schreiben. Und dann habe ich begonnen (lacht).

 Deine Protagonistin Sirîn ist Kurdin und du hast für dein Buch auch in der kurdischen Community recherchiert. War es schwierig, Zugang zu bekommen? Weißt du, ich wollte eine Minderheit nehmen, über die wenig bekannt ist. Was es bedeutet, kurdisch zu sein, das wissen ja die wenigsten. Ich natürlich auch nicht. Also habe ich angefangen zu recherchieren, habe irrsinnig viel gelernt und war auch erschüttert über meine eigene Unwissenheit. Ich habe über verschiedene Einrichtungen versucht, Kontakt zu bekommen. Das war schwierig, weil es viele Ängste bei den Leuten gab, was natürlich in der kurdischen Geschichte begründet ist. Irgendwann hat es geklappt. Heute bekomme ich bei Lesungen oft Feedback von Zuhörer*innen, die sagen, „Hey, ich bin auch kurdisch!“ Dann unterhalten wir uns, und das ist immer spannend.

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 Wie lange hast Du insgesamt für das Buch recherchiert? Das kann ich gar nicht so genau sagen. Das war ganz schön lange, weil immer wieder neue Fragen aufkamen. Was sind das für Rituale? Und wie lange genau dauerte eigentlich der erste Irak-Krieg? Und viele Menschen passen in einen U-Bahn-Waggon? Ich bin halt auch Journalistin – ich versuche, wirklich gut zu recherchieren. Und ich finde, wenn man realistische Bücher schreibt, dann muss das auch Hand und Fuß haben.

Das Buch hat mehrere Ebenen. Wie hast Du das beim Schreiben gemacht? Indem ich es immer wieder überarbeitet habe. Es durften einfach keine Fehler auftreten. Und das ging nur durch ständiges Überarbeiten und später noch mal mit dem Außenblick durch meine Lektorin. Und das verwebt sich dann einfach.

Gibt es in dem Buch etwas, was mit Deinem eigenen Leben und Deinen eigenen Erfahrungen zu tun hat? Also da ist natürlich mein vieles Reisen und diese Möglichkeit des Terrors, der ja viel im öffentlichen Nahverkehr, Fernverkehr, Flugzeugen passiert ist. Und dann meine Nachbarin, die ich schon erwähnt habe. Aber auch die Abgründe, in die Mara abtauchen muss. Ich glaube, wenn man älter wird, gibt es wenige Menschen, die nicht schon mal in einen Abgrund gucken mussten. Und das hab ich auch getan und das macht, dass ich mit diesem Blick in den Abgrund anders umgehen kann, als Menschen, die das nicht getan haben. Diese Abgründe müssen nicht mal die eigenen sein, das können auch die von Freund*innen sein. Meine liebe Kollegin Elisabeth R. Hager sagt immer: „Die Geschichte ist erfunden, die Gefühle sind echt“ – und sie hat so Recht!

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Vorne im Buch steht eine sehr emotionale Widmung… Ja, die ist für zwei wunderbare Seelen, die mich und die Welt verlassen haben. Es gab diese beiden Todesfälle, während ich an dem Buch gearbeitet habe. Das hatte auch Einfluss auf mein Schreiben.

Marion Meister aka June Perry hat mir mal erzählt, dass sie von Sachen, die sie selbst geschrieben hat, manchmal emotional so fertig ist, dass sie danach erst mal eine Schreibpause braucht. Geht Dir das auch manchmal so? Ja, absolut. In der „Stille“ stecken viele meiner eigenen Gefühle. Die kamen beim Schreiben einfach hoch. Dann war ich traurig, habe manchmal sogar geweint. Mehrere Tage nicht schreiben ging in dem Fall nicht, weil ich Zeitdruck hatte. Aber mal kurz was anderes machen oder mir einen Tag Pause nehmen, das kam vor. Wenn du etwas schreibst, was bei dir eine Tür aufstößt, dann musst du dir auch erst mal angucken, was in diesem Raum, zu dem die Tür aufgestoßen wurde, so rum liegt. Und selbst wenn du die Tür schnell wieder zumachst, ist da wahrscheinlich trotzdem was herausgeschwappt. Und damit muss man dann erst mal umgehen.

Kannst Du Dir vorstellen auch mal was ganz anderes zu schreiben – zum Beispiel ein Kinderbuch oder einen Liebesroman? Liebesromane lese ich hin und wieder ganz gerne, aber als Autorin fällt mir das schwer. Das Entstehen einer Liebesbeziehung ist etwas Schönes, das kann man ein bisschen beobachten, aber damit ein ganzes Buch zu füllen, das interessiert mich weniger. Mich reizt es mehr, die Schwierigkeiten einer Liebesbeziehung darzustellen. Die Momente, in denen das Bild, das nach außen transportiert wird, bricht. Und ein Kinderbuch – ja, darüber haben Antje und ich schon nachgedacht. Kann gut sein, dass das kommt…

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Zusammen sind sie Ella Blix – Tania Witte und Antje Wagner (Foto: Astrid Poppenhausen)

Warum schreibst du gerne Thriller? Ich finde, eine Geschichte muss durch einen spannenden Plot getrieben werden, und das, was wichtig ist, spielt sich dann auf der Meta-Ebene ab. In „Die Stille zwischen den Sekunden“ geht’s um Freundschaft, Trauma, unterschiedliche Kulturen, Vorurteile, also um ganz viele Dinge, die eigentlich mit der Handlungsebene relativ wenig zu tun haben. Und ich mag diese beiden Ebenen: Einerseits diesen Spannungsbogen, der die Leute durch die Geschichte treibt, und dann diese stillen Töne dazwischen, die ganz vorsichtig an ihren Platz fallen. Ich glaube, wenn die fehlen würden, dann hätte ich auch keine Lust auf Thriller. Ich mag diese Doppelbödigkeit von Spannungsliteratur.

Sowohl bei der „Stille“ als auch beim „Schein“ war das Ende eher traurig, wenn auch nicht völlig hoffnungslos. Magst Du keine Happy Ends? Ich mag Happy Ends schon – bei Filmen, und manchmal auch bei Büchern. Aber ich glaube nicht an Happy Ends. Nach meiner bisherigen Lebenserfahrung jedenfalls nicht. Und ich mag diesen Moment, wenn es ein bisschen sperrig wird. Das kommt mir echter vor.

Du schreibst gerade an einem neuen Buch. Worum geht es darin? Darin geht’s um Elli, die als Fünfzehnjährige mit einem Burnout in eine Klinik kommt und dort die bipolare Marilu kennenlernt. Zwei Jahre später, mit siebzehn also, als Elli längst wieder Zuhause ist und die beiden schon lange keinen Kontakt mehr haben, bekommt sie plötzlich einen Brief von Marilu. Damit beginnt eine spannende Schnitzeljagd …

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Wow, das klingt wirklich spannend. Du hast auch schon mal in einer Psychiatrie hospitiert. Wie war das für Dich? Oh, das war intensiv und echt heftig. Ich habe sehr viel gelernt und es hat mich auch an meine Grenzen gebracht. Ich habe an diesem kurzen Besuch und diesen ganzen Erfahrungen, die ich da machen durfte, lange gekaut.

Was hat dich dort besonders beeindruckt oder ist dir besonders in Erinnerung geblieben? Die Art, auf die Ärzt*innen, Psycholog*innen und das Pflegepersonal mit den Jugendlichen umgegangen sind war wirklich beeindruckend. Und dass sie trotz dieser Wärme in der Lage sind, sich von dem Leid abzugrenzen, finde ich bewundernswert. Daran bin ich schon bei meinem Reinschnuppern grandios gescheitert.

In „Der Schein“ gibt es Gigi, einen Jungen, der Mädchenkleider trägt. In der „Stille“ wird das Thema gleichgeschlechtliche Liebe nebenbei angesprochen. Und auch in „Metarmorphose“ spielt Queerness eine Rolle. Kannst Du Dir vorstellen, eine queere Person auch mal zur Hauptfigur zu machen?  Klar, das kann ich mir gut vorstellen. Allerdings hatte ich das schon, denn in meiner Trilogie geht es um Charaktere, die auf alle möglichen Arten jenseits der Normen leben. Das war für Erwachsene, aber vielleicht mache ich das irgendwann auch noch mal in einem Jugendbuch. Im Moment geht es mir eher darum, Diversität mit einer gewissen Beiläufigkeit abzubilden. Mir ist es wichtig, dass Menschen im Rollstuhl vorkommen, es unterschiedliche Hautfarben gibt und unterschiedliche sexuelle Orientierungen. Das muss dann aber nicht zwangsläufig eine Hauptfigur sein. Es kann einfach in den Alltag mit einfließen, denn das ist es: Alltag. Menschen sind unterschiedlich und ich finde, sie sollten in ihrer Unterschiedlichkeit auch beleuchtet werden.

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Die drei Bände von Tanias Trilogie für Erwachsene erschienen 2011, 2012 und 2014. Foto: Quer Verlag

Absolut! Diversität ist etwas, was mir persönlich in Büchern auch total wichtig ist. Mein Eindruck ist, dass gerade in Jugendbüchern in letzter Zeit öfter People of Color oder Leute mit Behinderungen oder psychischen Krankheiten vorkommen. Und auch queere Charaktere. Was glaubst Du, ist das eine Modeerscheinung? Oder wird das von Dauer sein? Schwierig zu sagen. Ich hoffe natürlich, dass es von Dauer sein wird …

Das hoffe ich auch … Man weiß es leider nie. Natürlich gibt es Leute, die das ausnutzen, um Profit daraus zu ziehen. Und trotzdem ist es wichtig. Das ist wie mit Feminismus: Irgendwann haben einige Designer das Wort „Girlpower“ oder „Feminism“ auf T-Shirts drucken lassen. Mit der Realität dieser Modeketten hat das wenig bis gar nichts zu tun, würde ich vermuten. Die haben das gemacht, weil es hip war – und trotzdem gab es dadurch eine Sichtbarkeit. Diversität ist wichtig, und mir ist es relativ egal, ob jemand damit nur einem Trend folgen will. Es ist wichtig, dass Menschen abgebildet werden, die unterschiedlich sind. Und dass es auch Stimmen gibt für Leute, die so oft keine haben.

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Drei Stunden saßen Tania und ich zusammen. Zeit zum Signieren war zwischendrin natürlich auch.

Tanya Stewner hat mal erzählt, dass sich immer wieder Leute beim Verlag oder auch bei ihr selbst beschweren, dass in ihrer Liliane-Susewind-Reihe ein schwules Pinguin-Pärchen vorkommt. Manche fordern sogar eine Warnung für Eltern im Klappentext. Wie krass ist das bitte? Und ich frage mich, ob die Verlage da weiter sind als die Gesellschaft. Was würdest Du sagen? Ich weiß es nicht, Mirai. Ich glaube, dass Literatur, Philosophie und Kunst sich in allen möglichen Bereichen befruchten und sehr oft auch Utopien schaffen. Dass ich als Autorin zum Beispiel sage, okay, es darf jemanden wie Gigi in meinen Büchern geben, auch wenn es den in der Realität wahrscheinlich sehr selten gibt. Darum geht’s nicht. Es geht darum, dass diese Person da sein könnte, dürfte. Mir wurde schon mal gesagt, Jungs seien ja gar nicht so, wie ich sie beschreibe. Die seien nicht immer so nett. Und ich denke, ja, das sind sie vielleicht nicht. Aber das heißt ja nicht, dass nicht auch nette Jungs geschrieben werden dürfen.

Bücher sollen mehr zeigen können als die Realität. Genau! Natürlich kannst du einfach ein Abbild der Gesellschaft schreiben. Aber welche Gesellschaft ist es denn, in der du lebst? Ich fokussiere mich lieber darauf, wie ich mir eine ideale Gesellschaft vorstelle, nämlich, dass jemand im Rollstuhl sitzt und das gar kein Thema sein sollte, über das geredet werden muss, außer dass es halt scheiße ist, wenn die Aufzüge in der U-Bahn nicht funktionieren. Ich denke, es ist wichtig, das zu thematisieren, es ist wichtig, das abzubilden. Und die Verlage trauen sich da, glaube ich, mittlerweile mehr. Vielleicht auch, weil es ein Trend ist. Ich weiß es nicht. Und die Menschen müssen nachziehen. Aber Worte sind mächtig. Wenn Dinge immer wieder als normal beschrieben werden, dann wird es vielleicht irgendwann auch als Normalität angesehen.

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Wie bei den Pinguinen… Genau. Die schwulen Pinguine… (lacht)… ja! Es gibt leider immer Menschen, die sich an irgendwas stoßen. Wir müssen einfach hoffen, dass die Verlage mutig sind. Ich glaube, sie sind so semimutig, weil sie natürlich auch vom Markt abhängig sind. Aber ich finde das, was passiert, gut und wichtig. Es gibt heute sehr viel mehr Diversität in Büchern. Und das darf nicht durch irgendwelche Leute von außen totgeschrien werden.

Mal zurück zu Deiner Arbeit. Manche Autor*innen haben einen sehr organisierten Tagesablauf, schreiben zum Beispiel jeden Morgen eine bestimmte Zahl an Stunden. Wie ist das bei Dir? Ich habe leider mehr so einen Wunsch-Tagesablauf (lacht). Der würde so aussehen, dass ich aufstehe, frühstücke, Yoga mache und entspannt in den Tag komme. Dann ein paar Stunden schreibe, dann E-Mails mache und Buchhaltung und so was. Das wäre der ideale Tag. Leider kann ich aber nicht so konsequent sein, weil ich viel unterwegs bin und auch immer so viel anderes ansteht.

Hast Du eine Zeit zu der Du besonders gerne schreibst? Und einen Lieblingsplatz?Nein. Aber ich schreibe eher tagsüber. Und am allerliebsten arbeite ich zu Hause an meinem Schreibtisch. Nicht gerne im Café, nicht in Menschengruppen und im Zug leider gar nicht, weil mir dabei leicht schlecht wird. Einer meiner Lieblingsorte zum Schreiben ist das kleine Chalet meiner Schwiegermutter (lacht). Das klingt jetzt so hip, aber es ist nur ein kleines Holzhaus im belgischen Wald, wo es kein Internet gibt, kein Radio, kein Fernsehen und nur sehr schlechten Handy-Empfang. Da kann ich ganz wunderbar arbeiten. Dann schreibe ich ein paar Stunden konzentriert und dann gehe ich raus und fälle Bäume oder reiße Brombeeren raus oder laufe durch den Wald.

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Plottest Du viel? Mit Ella Blix müssen wir sehr viel plotten, weil wir zu zweit arbeiten. Tania Witte alleine plottet auch, aber viel weniger. Ich weiß natürlich den Anfang und das Ende einer Geschichte und bei den Kapiteln auch ungefähr, wohin es gehen soll. Aber ich kenne auch Autor*innen, die wissen genau: Auf Seite 60 ist der erste Kuss, auf Seite 90 ist das große Drama und auf Seite 120 finden das Paar wieder zusammen. So plotte ich nicht. Ich lasse den Figuren und der Geschichte sehr viel Raum, sich zu entwickeln und habe dann großes Vertrauen zu meiner Muse …

 Schreibst du auch manchmal spontan und nur für Dich? Selten. Als professionelle Schriftstellerin habe ich ja Deadlines und muss mich um vieles kümmern, darum habe ich dafür leider nur wenig Zeit. Wenn ich spontan etwas schreibe, dann eher Spoken-Word-Stücke.

Ich habe gelesen, dass Du Spoken Word Performance machst. Was ist das genau? Das sind Texte – manchmal Geschichten, manchmal Gedichte – die vorgetragen werden. Das kennt man von Poetry Slams, wobei die sehr viel zielgerichteter sind. Da treten Menschen gegeneinander an und es geht ums Gewinnen. Das finde ich nicht so schön, weil ich dieses Vergleichende, dieses Leistungsorientierte nicht so mag. Spoken-Word-Performances dagegen liebe ich sehr.

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Fotos & Collage: Risk Hazekamp/ Tania Witte

Und wie funktioniert das? Ich schreibe kleine Stücke, meistens so drei oder fünf Minuten lang, und die trage ich vor. Vor allem mittlerweile im Kunstkontext, manchmal aber auch auf Bühnen. Ich mag das sehr, weil es in diesen Stücken meistens um mich geht, während es in meinen Büchern ja vor allem um meine Protagonist*innen geht.

Das klingt cool! Und was machst Du, wenn Du an einem neuen Buch sitzt und mit deiner Geschichte nicht weiterkommst? Dann rede ich mit meiner Lektorin, wenn die Zeit hat. Bei Ella Blix rede ich mit Antje. Und besonders gerne rede ich mit dem wunderbaren Menschen, mit dem ich lebe. Wenn das nicht hilft, dann gehe ich ans Meer oder dreh eine Runde auf dem Tempelhofer Feld. Das macht den Kopf frei. Oder ich sitze einfach in der Natur und gucke den Bäumen und den Tieren zu. Das hilft auch … (lacht)

Und wie kommst Du auf Deine Ideen? Das ist unterschiedlich. Ich beobachte die Welt um mich herum sehr genau. Außerdem lerne ich ständig Menschen kennen, von denen höre ich viele Geschichten. Manchmal sagen die nur ein Wort und das ist dann wie ein Schlüssel, der eine Tür zu einem Raum in meinem Kopf aufschließt und den fülle ich dann. Das kann auch eine Szene in einem Film sein. Oder etwas in einem Museum, denn Moderne Kunst, vor allem zeitgenössische Fotografie, finde ich ganz toll. Auch davon lasse ich mich inspirieren. Es sind immer diese kleinen Schlüssel, die das Leben Dir schenkt, die Türen im Kopf öffnen.

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 Worum geht es in „WILD, dem neuen Buch von Ella Blix, das Ende Mai erscheint? In „WILD“ geht um eine Gruppe von Jugendlichen, die das Glück oder das Pech haben, in ein Strafcamp zu kommen, statt in den Jugendknast. Die treffen in einem Wald in der Sächsischen Schweiz aufeinander und sollen da eine Art Arbeitstherapie machen. Und dann passieren Dinge, die sonderbar sind. Und die Grenzen zwischen dem, was wir die Realität nennen, und dem, was auch eine Realität sein könnte, beginnen zu verschwimmen (kichert).

Oha. Ist das Buch gruselig? Gruselig ist es insofern, als dass es viele Momente gibt, in denen sich die vier Teilnehmer*innen des Camps fragen, ob das, was sie wahrnehmen, echt ist und was eigentlich Wirklichkeit bedeutet. Wenn Dinge passieren und Sachen verschwinden und unklar ist, wer was auf dem Kerbholz hat und wie das alles zusammenhängen könnte, dann ist es am Anfang vielleicht nur spannend, aber irgendwann kippt es in eine Gruseligkeit …

Wow, das klingt MEGA spannend. Du hast erzählt, dass Du gerne in einem kleinen Haus im Wald schreibst. Hast Du dich da beim Schreiben manchmal gegruselt? Oder bei Spaziergängen durch den Wald? Nö, eigentlich nicht, außer nachts. Da finde ich den Wald doch ein bisschen gruselig. Aber ich glaube, das ist alles nur in meinem Kopf. In Berlin ist es nachts auf den Straßen bestimmt gefährlicher als in diesem Wald. Da gibt es nicht mal Wildschweine. Insofern ist das eigentlich recht entspannt. Aber ich grusel mich trotzdem, vor allem, weil ich so eine wahnsinnige Fantasie habe. Ich stelle mir immer gleich vor, was wäre, wenn …

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Das Buch links ist ein Dummy – „WILD“ erscheint erst am 27. Mai 2020

Oh, ja, das kenne ich, das geht mir auch oft so… Eines wollte ich Dich noch fragen: „Der Schein“ spielt am Meer, „WILD“ im Wald. Was bedeutet Dir die Natur? Sehr viel, weil sie alles in Relation bringt. Weißt Du, wir halten uns immer für so wahnsinnig wichtig, und dann kommt eine zu große Welle, fällt ein Ast, irgendwas. Und das war’s. Alles ist vergänglich und in der Natur kommt der Mensch seinen eigenen Wurzeln sehr nahe. Deshalb mag ich die Natur. Und sie bedeutet auch Ruhe und Auftanken. Ich bin viel unterwegs, immer im Kontakt mit anderen Menschen, dabei aber eigentlich sehr introvertiert. Und dieses Introvertierte will auch gehätschelt und gepflegt werden. Man muss sich wieder aufladen. Mir zumindest gelingt das in der Natur sehr gut.

Das kann ich sehr gut verstehen. Vielen Dank für das Gespräch!

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Rezensionen auf Lass mal lesen! :

„Der Schein“

„Die Stille zwischen den Sekunden“

Externe Links: Mehr Informationen zu Tania Witte unter www.taniawitte.de sowie bei Instagram unter @tania_witte_autorin und bei Facebook unter facebook.com/ taniawitte 

Zwei Videos von Wohnzimmer-Lesungen, die Tania kürzlich im Rahmen einer Aktion des Arena-Verlags aufgenommen hat, findet Ihr hier

#1 „Die Stille zwischen den Sekunden“ 

#2 „Der Schein“

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