„WhatsApp würde mir fehlen“

Kirsten Boie gilt als eine der erfolgreichste und produktivsten deutschen Autorinnen: Kleiner Ritter Trenk oder Möwenweg, Seeräubermoses oder King Kong – irgendeines ihrer mehr als 100 Bücher hat wahrscheinlich jeder schon mal gelesen. Beim „BuchEntdeckerTag 2018“ im Altonaer Museum durfte ich die gebürtige Hamburgerin vor kurzem zu einem Interview treffen. Was ich besonders toll fand: Als wir nach einer halben Stunde das Gespräch abbrechen mussten, weil Boie im Galionsfigurensaaal aus „Seeräubermoses“ vorlesen sollte, versprach sie mir, dass wir das Interview später fortsetzen würden. Und tatsächlich ging es dann weiter 😊 Aber erst, nachdem die Autorin noch etwa 30 Kindern ein Autogramm gegeben hatte ☺️😉😉 Es wurde ein laaaaaaanges, und, wie ich finde, total interessantes Gespräch.

Aber – lest selbst!!!! 😀

(Foto oben: Indra Ohlemutz)

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Hallo Frau Boie, raten Sie doch mal, was mein erstes Buch von Ihnen war… Okay, ich versuch’s. War es „Juli und das Monster“?

Nein… War es „King Kong“?

Nein… Hm. „Möwenweg“?

Nein, das habe ich erst später gelesen… Oder war es ein Bilderbuch? War es „Der kleine Pirat?

Nein, es war „Albert spielt verstecken“! Oh! (Quietscht ein bisschen) Wie lustig, das habe ich gerade vorgestern erst verschenkt, und zwar an die chinesische Übersetzerin der Möwenweg-Bücher, die gerade ein Baby bekommen hat. Witzig!

Ein tolles Geschenk, finde ich. Ich habe die Albert-Bücher geliebt. Meine Eltern mussten mir die damals bestimmt 1000 Mal vorlesen. Oh, das freut mich!

Wie kamen Sie auf die Idee zu den Albert-Büchern? Naja, ich habe ja selbst zwei Kinder. Und ich habe gemerkt: Schon die ganz Kleinen blättern gerne in Büchern. Dabei geht schnell mal was kaputt, darum sind solche dicken Pappbilderbücher toll. Und wenn die eine Geschichte erzählen, dann muss es auch etwas sein, was für kleine Kinder eine Rolle spielt. Dieses Versteckspielen zum Beispiel, dieses „Kuckuck“ und Hände vor die Augen, das finde die eigentlich alle Klasse. In den Albert-Büchern (überlegt kurz), ich weiß gar nicht genau, wie viele es davon gibt…

Vier… Ah ja… (lacht) Siehst Du, du weißt besser Bescheid als ich. Also in allen vier Albert-Büchern geht es um Themen, die für ganz kleine Kinder wichtig sind.

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Zu Ihrem neuen Buch „Ein Sommer in Sommerby“. Das habe ich sehr gerne gelesen. Ich finde, das macht einem so ein richtig schönes Sommergefühl im Bauch. War es Ihr Ziel, ein Sommerbuch zu schreiben? Und wenn ja, warum? Ja, das war es. Du weißt sicher schon, dass ich an der Schlei ein kleines Haus entdeckt hatte, das tatsächlich so aussieht wie das Haus von der Oma im Buch und dass ich so auf die Idee gekommen bin, oder?

Ja, das habe ich in einem Interview bei YouTube gehört. Siehst Du, das habe ich auch schon oft erzählt. Naja, ich hatte ja vorher die drei Thabo-Bücher geschrieben, die in Afrika spielen. Und die haben ja einen ernsten Hintergrund (RED: Der junge Detektiv Thabo ist Aidswaise). Und dieses Sommerby war einfach nur eine Geschichte. Wie soll ich das sagen? (überlegt) Es war für mich ganz entspannt, das aufzuschreiben. Ich habe beim Schreiben die Atmosphäre genossen.

Ist das öfter bei Ihnen so, dass sich das Schreiben unterschiedlich anfühlt? Ja, auf jeden Fall. Je nachdem was Du schreibst, sind Deine eigenen Gefühle sehr unterschiedlich. Bei dem einen Buch stehst Du auf und hast eine ernste Zeit hinter Dir. Bei Sommerby bin ich dagegen immer ganz beschwingt vom Schreibtisch aufgestanden.

Das glaube ich. Wann haben Sie eigentlich dieses Haus an der Schlei entdeckt?Das war im Sommer vor zwei Jahren. Damals habe ich die Geschichte auch geschrieben. Die Bücher brauchen immer so etwa zwei Jahre Vorlauf, bis sie erscheinen.

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Sind Sie öfter in der Gegend von Schleswig? Ja, wir haben ein Ferienhaus an der Schlei. Allerdings nicht bei Schleswig, sondern mehr an der Mündung. Und gar nicht weit weg von Sommerby. Wobei: Den Ort gibt es nicht wirklich, der ist ausgedacht. Ich habe aber ein bestimmtes Dorf im Kopf.

Was reizt Sie an der Gegend? Ich finde, es ist sehr idyllisch dort. Die Landschaft ist schön und man kann viel machen: In der Ostsee baden, in der Schlei baden, Boot fahren. Es gibt viele schöne Orte. Es ist eine Gegend, die entschleunigt. Du bist entspannter, ruhiger, gibst Dich nicht mehr so der Hektik hin. Bei mir ist das zumindest so.

Seit wann fahren Sie dorthin? Etwa seit 15 Jahren. Also schon lange. Und da siehst Du auch: Das Buch ist nicht sofort entstanden. Ich habe nicht sofort ein Buch über die Gegend geschrieben, sondern erst als dieses kleine Haus der Auslöser war. Das ist bei mir ganz oft so,  dass ich über ein Thema schon lange hätte schreiben können, aber einen Auslöser brauche.

Und dann sind Sie spazieren gegangen und haben dieses Haus gesehen? Ja, genau. Und ich habe gedacht: Guck mal, ein Haus, das einen Steg zur Schlei hin hat,  aber zu dem keine Straße führt. Was müssen das für Menschen sein, die so leben? Und so bin ich auf die Oma gekommen. Und dann habe ich gedacht: Wie muss das denn für Kinder sein, die ein ganz normales Stadtleben führen und dann plötzlich bei so einer Oma in so einem Haus landen? Und so ist die Geschichte entstanden.

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In der Nähe lag ja auch die Wikingerstadt Haithabu. Habe Sie sich damit auch schon Mal befasst? Oder überlegt, auch mal etwas über Wikinger zu schreiben?Ich kenne Haithabu, bin ein paar Mal dort gewesen. Da gibt es eine tolle Ausstellung,  leider aber auch die grässlichsten Mücken der Welt. Ehrlich, wenn die Dich stechen – das dauert ewig, bis die Quaddeln wieder weg sind. Ich habe keine Ahnung warum. Aber dass ich mich darüber hinaus mit den Wikingern beschäftigt hätte – nee. Ich habe nie etwas dazu lesen. Ich habe auch nicht wirklich vor, etwas dazu zu schreibe, denn es gibt ja die Wiki-Bücher. Und die decken das Thema ziemlich gut ab, finde ich.

Und ein Wikinger-Mädchen? Das wäre doch mal was anderes. Wiki ist ja ein Junge und fährt immer mit auf dem Schiff seines Vaters. Aber was die Mädchen und Frauen damals gemacht haben, weiß man nicht. Stimmt! Die Idee ist nicht schlecht. (Überlegt) Die Idee ist wirklich nicht schlecht! Ich speichere das mal ab!

 Gibt es für die Figuren im Sommerby-Buch eigentlich reale Vorbilder? Nein. Es gibt für keine meiner Figuren nur ein einziges Vorbild. Jede setzt sich aus verschiedenen Vorbildern zusammen. Eine Ausnahme ist das Buch „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“. Darin erzähle ich authentische Geschichten aus Swasiland.

Die meisten Kinder und Jugendlichen heute kennen kein Leben ohne Smartphone und WLAN. Bei den älteren Generationen ist das noch anders. Und bei Ihnen?Also, ich bin seit etwa 20 Jahren im Internet unterwegs. Ich hatte auch schon ganz früh ein Handy. Als es noch keine Smartphones gab, hatte ich einen Blackberry, damit ich meine Mails von unterwegs lesen und schreiben konnte. Ich bin da selbst also ziemlich stark involviert und könnte nur schwierig ohne leben. Aber das hat bei mir hauptsächlich berufliche Gründe. Mein Smartphone ist für mich so eine Art Büro, weil ich wahnsinnig viel reise.

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Und sind Sie auch bei Instagram? Ich habe gesehen, dass Sie einen Account haben… Ja, das stimmt. Den habe ich aber noch gar nicht wirklich aktiviert. Hauptsächlich operiere ich im Moment noch mit Facebook. Das ist für Jüngere nicht mehr so aktuell, aber viele Bücher werden ja von den Eltern oder von den Großeltern ausgesucht und die sind alle bei Facebook unterwegs. Ich denke aber, das wird irgendwann aufhören und die werden bald auch alle bei Instagram sein. Darum möchte ich das auch bespielen. Aber dafür brauche ich dann auch gute Fotos – möglichst so gute wie Deine! Davon hängt es schließlich ab.

Und könnten Sie privat auf WhatsApp, Internet und Co. verzichten? Zum Beispiel darauf, Ihren Freundinnen Nachrichten zu schreiben? Schlecht. Ich denke Leute, die so alt sind wie ich, die könnten wahrscheinlich noch darauf verzichten, weil wir mal gelernt haben, anders zu kommunizieren. Aber inzwischen läuft ja so viel über WhatsApp. Es würde mir schon sehr fehlen…

Haben Sie abgesehen von Ihren Lesungen eigentlich Kontakt zu Kindern und Jugendlichen? Im Privatbereich habe ich auch Kontakt, aber viel mehr natürlich durch meine Lesungen oder Workshops. Wobei das immer eine Sondersituation ist. Ich glaube, viel wichtiger ist, dass man das Alltagsleben kennt, weil sich das so wahnsinnig verändert. Auch und gerade durch die digitalen Medien.

Sie schreiben seit langer Zeit und hatten schon mit vielen Kindern und Jugendlichen zu tun. Was würden Sie sagen, was unterscheidet die Kinder von heute von denen der 80er, 90er oder der Nuller-Jahre? Das klingt jetzt vielleicht blöd, aber ich würde sagen: Wahrscheinlich gar nicht so viel. Natürlich beschäftigt Ihr Euch mit anderen Dingen. Und Ihr kommuniziert anders. Aber digital kommunizieren heißt ja nicht, dass man deswegen die direkte Kommunikation vernachlässigt. Das weiß ich ja von vielen, die zwar ständig mit dem Handy zu Gange sind und trotzdem unglaublich viele reale Freunde und Freundinnen haben, mit denen sie sich treffen. Also ich glaube nicht, dass sich da so viel geändert hat. Ich glaube auch immer noch, dass die Probleme, die man hat, wenn man vom Kind zum Erwachsenen wird, dass die sich auch nicht geändert haben. Dieser Übergang ist die schwierigste Zeit im Leben.

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Was meinen Sie konkret? Naja, dieses herauskriegen: Wer bin ich? Wie komme ich mit anderen Menschen klar? Wie finde ich Freunde? Wie finde ich Partner? Was will ich mal beruflich machen? Was will ich mit meinem Leben machen? Das ist ja alles offen und das muss man in dieser Übergangszeit klären. Und ich glaube nicht, dass sich die Art, wie man das heute macht, geändert hat. Was sich geändert hat ist, dass durch diese ganzen digitalen Medien wahnsinnig viel Zeit gebunden wird, die früher nicht gebunden war und die wir für anderes zur Verfügung hatten. Das ist, glaube ich, die Hauptveränderung. Die Menschen sind nicht anders geworden.

In Sommerby geht es auch ums Verliebtsein. Martha verliebt sich in Enes. Und sie liest ein altes Buch ihrer Oma, in dem es auch um das Thema Liebe geht. Haben Sie bewusst eine andere Zielgruppe ins Auge gefasst? Ja, auf jeden Fall. Beim Möwenweg ist die Obergrenze etwa zehn Jahre. Und bei Sommerby ist zehn Jahre die Untergrenze.

Und was hat es mit diesem Buch „Desiree“ auf sich, das in Sommerby auftaucht?Oh ja, das ist wirklich witzig. Das ist die Geschichte einer Französin, die sich in Napoleon verliebte und mit ihm verlobt war und die dann einen Mann geheiratet hat, der später der schwedische König wurde. Eine wahre Geschichte. Als ich so alt war wie Du war das Buch DER Hit. Es gibt in meiner Generation kaum Leute, die das nicht kennen. Aber Du kannst Dir nicht vorstellen, wie viel Post ich jetzt zu diesem Desiree-Thema bekomme. Und zwar von jungen Leuten, die das gelesen haben und die das auch toll finden. Es ist total schön zu sehen, dass so ein Buch so lange lebt.

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Aus dem Instagram-Feed der Verlagsgruppe Oetinger

Noch mal zurück zum Landleben. Ich habe ein Foto von Ihnen in einem Garten gesehen. Sind Sie ein Landmensch? Und kochen Sie auch Marmelade, so wie Oma Inge in Sommerby? (Lacht und seufzt) Also, wenn ich Zeit habe, dann koche ich gerne Marmelade. Es hat Jahre gegeben, da habe ich Unmengen von Marmelade gekocht. Und ja, ich finde es auf dem Land schön. Da kann ich toll abschalten. Ich zupfe gerne Unkraut, das kann sich kein Mensch vorstellen, aber ich finde es toll, wenn etwas erst chaotisch aussieht und dann schön. Ich bin aber auch nicht nur ein Landmensch. Ich glaube, ich könnte nur sehr schwer auf die Stadt verzichten und auf all das, was es da an Anregungen gibt.

Wenn Sie im Moment nicht so zum Marmeladekochen kommen, dann gefällt Ihnen ja vielleicht das Geschenk, dass ich Ihnen mitgebracht habe. Oh… (Staunt) Nee… Oh, ist das schön (lächelt). Hast Du die selbst gekocht?

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Ein Glas selbstgekochte Erdbeermarmelade – nicht von Inge, sondern von mir! In „Ein Sommer in Sommerby“ kocht die Oma oft Marmelade

Ja! Wie toll! Vielen Dank! Und was lustig ist: Die Kissen in meinem Garten an der Schlei sind auch grün mit weißen Punkten, so wie der Deckel von diesem Glas.

Wie kamen Sie eigentlich auf den Namen Sommerby und auf diese Schreibweise?Also in der Gegend gibt es ganz viele Orte, deren Namen enden auf –by. Das ist das dänische oder schwedische Wort für Dorf. Deshalb auch Büllerbü. Schreibt sich ja auch so, eigentlich. Es gibt Hunderte Orte da oben, deren Namen auf –by enden. Und weil es eine Sommergeschichte sein sollte, eben Sommerby.

Haben Sie als Kind auch gerne gelesen? Oh, ja. Ich habe so viel lesen, dass meine Eltern es mir ständig verboten haben.

Hatten Sie ein Lieblingsbuch? Das hat natürlich gewechselt, auch so nach Alter. Aber ich mochte Astrid Lindgren sehr gerne, vor allem Bullerbü. Es gab damals noch nicht viele tolle Bücher für Kinder. Lindgren fiel da wirklich raus und ich habe Bullerbü geliebt, weil das so ein schönes Gefühl war, wenn man das gelesen hat. Jugendbücher gab es damals fast gar nicht. Das heißt, ich habe ganz viel Erwachsenenliteratur gelesen als ich etwas älter war. Aber in der Nacht vor meinem Abitur, da war ich so gestresst und in Panik, da habe ich alle drei Bullerbü-Bücher noch einmal gelesen. Zur Beruhigung. Und es hat funktioniert. Da sieht man, wie Bücher helfen können.

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Haben Sie als Kind auch selbst geschrieben? Ich habe mir immer schon Geschichten ausgedacht. Geschrieben eigentlich nur, als ich ganz klein war, aber dann war mir das irgendwann zu anstrengend. Dann hatte ich die nur noch im Kopf.

Sie haben über 100 Bücher geschrieben. Mögen Sie eines davon besonders gerne?Ich mag alle, aber zwei sind mir besonders nah: Eines heißt „Monis Jahr“, das andere „Ringel Rangel Rosen“. Beide spielen in der Zeit, in der ich selbst Kind und Jugendliche war und haben ganz viel mit meinen eigenen Erinnerungen zu tun.

Haben Sie eigentlich auch schon Bücher für Erwachsene geschrieben? Nein. Das Buch „Monis Jahr“ kaufen Erwachsene gerne, um es selbst zu lesen. Aber ich habe mich noch nie hingesetzt und gesagt: Jetzt schreibe ich etwas für Erwachsene.

Warum nicht? Das ist eine spannende Frage, denn ich bin ja eigentlich mehr als erwachsen. Erst mal glaube ich, dass mir immer zuerst Ideen zu Kinder- und Jugendbüchern kommen. Da fällt mir ständig etwas ein. Und dann sind das natürlich zwei sehr unterschiedliche Sachen. Das denkt man gar nicht so, aber wenn ich jetzt ein Kinderbuch schreibe, dann kann ich ziemlich sicher sein, dass ich einen Verlag finden werde, der das nimmt. Und zwar sogar – und das klingt jetzt brutal – wenn es schlecht ist. Weil ich einigermaßen bekannt bin und seit über 30 Jahren Kinderbücher schreibe. Im Erwachsenenbereich kennt kein Mensch meinen Namen. Da müsste ich ganz von vorne anfangen.

Aber viele Erwachsene, besonders die mit Kindern, kennen doch Ihren Namen und Ihre Bücher, haben sie als Kinder ja vielleicht auch gelesen… Ja, das stimmt. Aber ehrlich gesagt fällt mir für Erwachsene auch nicht so viel ein. Aber nehmen wir mal an, es wäre so. Ob die Leute dann von jemandem, der sonst Kinderbücher schreibt, ein Erwachsenenbuch lesen wollten? Das weiß ich nicht. Ich habe das Gefühl, das sind zwei ganz getrennte Welten. Dass die Leute sagen: Die schreibt Kinderbücher, das andere kann sie wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht wäre es das wert, das einmal auszuprobieren…

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Und was lesen Sie selbst gerne? Ich lese immer noch wie verrückt und zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Bücher. Wenn ich im Stress bin, also zum Beispiel jeden Tag in eine andere Stadt zu irgendwelchen Lesungen muss, dann lese ich gerne Krimis. Wenn ich zur Ruhe komme, dann lese ich auch Sachen, die etwas anspruchsvoller sind und bei denen man sich auch konzentrieren muss. Und deshalb denke ich auch immer, dass es so wichtig ist, dass wir ganz viel Verschiedenes haben. Erstens brauchen unterschiedliche Menschen unterschiedliche Bücher. Und zweitens braucht auch derselbe Mensch in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Bücher.

Ja, das habe ich bei mir auch schon gemerkt. Wenn ich etwas sehr Spannendes gelesen habe, dann möchte ich danach oft erst mal etwas Witziges lesen. Genau. Und es gibt Situationen, da will man auf gar keinen Fall etwas Trauriges lesen. Das würde man nicht aushalten. Und dann gibt es wieder Zeiten, da ist man dafür offen. Das finde ich auch das Tolle an Büchern – dass sie das ganze Spektrum abdecken.

Halten Sie sich denn auch auf dem Laufenden, was auf dem Kinderbuchmarkt gerade so angesagt ist? Lesen Sie die Bücher anderer Kinderbuchautoren? Ich versuche es einigermaßen. Bei 9000 neuen Kinderbuchtiteln pro Jahr ist das schwer. Wenn über ein Buch viel gesprochen wird, dann lese ich es. Ich glaube, dass die Kinder- und Jugendbücher in den letzten Jahren immer besser geworden sind.

Mir fällt das bei den Covern auf. Die sehen heute viel schöner aus… Genau. Da entwickelt sich etwas und ich finde das toll. Ich mag es, wenn sich Dinge vorwärts entwickeln. Ich stoße oft auf Bücher, die ich gut finde. Und manchmal stoße ich auf welche, bei denen ich denke: Das hätte ich gerne selbst geschrieben! Nicht jedes Buch löst diesen Gedanken aus, denn manches ist so anders als das, was ich schreibe. Das hätte ich dann wiederum gar nicht gekonnt.

Was ist Ihr Lieblingsbuch? Von allen auf der Welt? Das ist so schwierig. Es gibt so viele tolle Bücher. Eines, das mir besonders gut gefällt ist von dem amerikanischen Autor Philip Roth. Das Buch heißt „Der menschliche Makel“. Das ist ein sehr langer, sehr komplizierter Roman. Und das ist so ein Buch, da habe ich nichts gefunden, von dem ich dachte, das hätte man besser machen können. Wenn man selbst schreibt, dann stößt man in Büchern manchmal auf Stellen, wo man so denkt: Oh, da hat der Autor aber geschummelt. Oder man denkt, da könnte man dies oder das noch verbessern. Aber bei diesem Buch von Philip Roth da stimmt alles. Das finde ich absolut großartig.

Und welches aktuelle Jugendbuch gefällt Ihnen besonders gut? Da gibt es ein Buch, das ist in Deutschland mit einem englischen Titel erschienen. Es heißt: „The hate U give“ und ist das Debüt einer jungen schwarzen Amerikanerin. Das Buch spielt in den USA und ist die Geschichte eines afro-amerikanischen Mädchens, dessen Freund von der Polizei erschossen wird. Das Buch ist ganz toll geschrieben, dabei kann man das Thema so verhunzen. Das könnte man kitschig machen – aber hier überhaupt nicht. Was die Autorin beschreibt, ist größtenteils ihr eigenes Leben.

Das klingt sehr spannend. Ein ganz anderes Thema:Ihr erster Beruf war Lehrerin. Wo haben Sie damals unterrichtet? Und welches Fach? Also ich habe Deutsch unterrichtet – kein Wunder, irgendwie – außerdem Englisch und Philosophie. Und ich war zuerst an einem Gymnasium in einem ziemlich guten Hamburger Stadtteil. Was heißt gut? Aber Du weißt, was ich meine. Und bin dann in einen sogenannten sozialen Brennpunkt gegangen, an eine Gesamtschule, und das war, als hätte ich meinen Beruf neu gelernt. Denn das war sehr anders und da habe ich etwas verstanden, was für mich bis heute ganz ganz wichtig ist. Nämlich, dass es wirklich in Deutschland…. (sucht nach Worten)… dass die Gesellschaft auseinanderklafft.

Sie meinen in arm und reich? Ja, genau. Man hört ja immer von der Schere, die immer weiter auseinander geht. Die Menschen leben so unterschiedlich. Und ich meine jetzt nicht, weil sie einen anderen kulturellen Hintergrund haben, türkische Wurzeln oder so etwas. Ich meine Menschen, denen es besser geht und die gebildet sind, das hängt ja auch oft miteinander zusammen, und auf der anderen Seite die,  die weniger gebildet sind und denen es schlechter geht. Und das sind oft wirklich Welten, die dazwischen liegen. Und ich habe dann auch ganz früh ein Buch dazu geschrieben, das hieß „Prinz und Bottelknabe“, darin geht es um zwei Jungen – einen aus der einen Welt und einen aus der anderen. Es war für mich ganz wichtig an diesen Schulen diese Erfahrungen zu machen. Aber überhaupt fand ich es toll, Lehrerin zu sein. Ich fand es einen supertollen Beruf.

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Kirsten Boie kam durch Zufall zum Schreiben – und wollte dann nicht mehr davon lassen. Inzwischen hat sie mehr als 100 Bücher Kinder- und Jugendbücher verfasst.

Und wieso haben Sie aufgehört als Lehrerin zu arbeiten? Mein Mann und ich haben zwei Kinder adoptiert. Und als wir das erste adoptiert hatten, unseren Sohn, hat das Jugendamt verlangt, dass ich Zuhause bleibe. Die haben gesagt, man kann Mutter sein oder berufstätig. Da kann man sehen wie lange das her ist! Das war 1983. Zu meinem Mann haben sie das nicht gesagt. Weil wir ein zweites Kind von denen wollten, bin ich dann Zuhause geblieben. Und dann ist mir mein erstes Buch eingefallen und das war gleich eine Geschichte über ein adoptiertes Kind.

„Paule ist ein Glücksgriff“? Ja, genau. Aber die Geschichte ist ausgedacht. Der Junge im Buch ist viel älter als mein Sohn war, als wir ihn adoptiert haben.

Und wie waren Sie als Lehrerin? Waren Sie so wie Frau Streng im „Möwenweg“, die ja sehr nett ist? Also ich hoffe, dass ich in bisschen wie Frau Streng war. Die ist für mich so ein bisschen eine Musterlehrerin. Ob ich so war weiß ich aber nicht. Dazu müsstest Du meine ehemaligen Schüler befragen. Aber da es mir Spaß gemacht hat, ich gerne unterrichtet habe und die Schüler mochte, glaube ich, dass es einigermaßen gelaufen sein muss. Denn es sind die Lehrer, die unglücklich sind, die auch die Schüler unglücklich machen.

Sind Sie heute noch traurig, dass Sie nicht länger als Lehrerin arbeiten konnten?Manchmal schon. Aber ich hätte wieder anfangen können, nach einer bestimmten Zeit.

Und haben Sie das dann gemacht? Naja, das hätte ja bedeutet: Zwei Kinder, ein Job als Lehrerin – und das Bücherschreiben wollte ich ja auch nicht mehr aufgeben.

Und später, als ihre Kinder größer waren? Hätten Sie da nicht wieder einsteigen können? Nee! Ich hätte nur 12 Jahre aussetzen können und das heißt, ich hätte spätestens wieder anfangen müssen, als unser Sohn 12 war und unsere Tochter 10. Das heißt, ich hätte zwei Kinder gehabt und wäre Lehrerin gewesen. Da hätte ich nie im Leben nebenbei auch noch Bücher schreiben können. Ich denke, ein Beruf geht mit Kindern, aber zwei Berufe, das ist hart.

Und jetzt sind Sie immer noch traurig? Ein bisschen…? Manchmal ja. Deshalb mache ich auch gerne Lesungen und besonders gerne welche, bei denen ich nur eine oder zwei Klassen habe. Mit denen kannst Du ja ganz anders reden. Da führst Du richtige Gespräche.

Wo schreiben Sie eigentlich Ihre Bücher? Viele Jahre lang habe ich in der Küche geschrieben, am Küchentisch, weil es nicht anders ging. Aber seit ungefähr 20 Jahre habe ich ein Arbeitszimmer. Ich kann auch woanders schreiben, aber in meinem Arbeitszimmer schreibe ich am liebsten. Wenn ich morgens aufgestanden bin, fange ich gleich an. Da bin ich noch am frischesten.

Und wie kommen Sie auf Ihre Ideen? Das ist ganz unterschiedlich. Manchmal hat das etwas zu tun mit meinem Leben. So wie bei „Paule ist ein Glücksgriff“, obwohl die Geschichte völlig ausgedacht ist, aber es hatte ja mit meiner Lebenssituation zu tun. Mit dem Thema Adoption. Dann habe ich Meerschweinchenbücher geschrieben, über ein Meerschweinchen, das King Kong heißt. Wir hatten immer Meerschweinchen. Das war ein Gebiet, auf dem ich mich perfekt auskannte. Manchmal weiß ich aber auch

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gar nicht, woher die Ideen kommen. „Seeräubermoses“ ist mir zum Beispiel eingefallen, als ich an einer roten Ampel in Hamburg-Winterhude stand.

Und was machen Sie, wenn Ihnen nichts mehr einfällt? Also Ideen habe ich immer. Die habe ich, glaube ich, bis ins Jahr 2050 und dann gibt es mich nicht mehr. Aber dass ich an einem Buch sitze und mir nichts mehr einfällt, das passiert ja öfter. Dass es an einer Stelle hakt. Dann gehe ich meistens in der Natur spazieren. Ich stell’ dann oft fest, dass es vorher einen Fehler gegeben hat. Also dass ich vorher irgendetwas geschrieben habe, was mich auf Abwege gebracht hat. Dann gehe ich zurück, streiche die letzten 10 Seiten oder so, und schreibe die noch mal neu.

Wow, 10 Seiten, das ist ja ganz schön viel… Wenn ich erst mal angefangen habe zu schreiben, dann schreibe ich unheimlich schnell. Weil es mir eben auch Spaß macht. Aber es hat auch Fälle gegeben, und nicht nur ein Mal, wo mir keine Lösung eingefallen ist. Also ich habe diverse Dateien auf meinem Laptop, die nicht fertig sind. Bei denen ich einfach dachte, das wären gute Geschichten und dann – nix mehr. Das gibt es auch. Ich lösche die Dateien nicht und wenn mir eine Lösung einfällt, dann mache ich sie fertig.

Wie kommen Sie auf die Namen Ihrer Figuren? Das ist unterschiedlich. Viele fallen mir spontan ein. Was mir auch wichtig ist: Es heißen ja die Kinder auf den beiden Seiten der Schere nicht gleich. Also Mirai würdest Du wahrscheinlich auf der anderen Seite der Schere nicht heißen. Namen sagen ganz viel aus über den sozialen Hintergrund. Nicht immer, es gibt auch Ausnahmen. Das heißt, ich versuche immer zu gucken, dass das ungefähr stimmt. Bei Büchern wie „Ritter Trenk“ oder „Seeräubermoses“ muss es natürlich in die Zeit passen. Es müssen also Namen sein, die es damals schon gegeben hat. Manchmal versuche ich auch, dass die ein bisschen witzig sind.

Nutzen Sie für Ihre Geschichten manchmal auch Namensbücher? Das habe ich noch nie gemacht. Das muss ich auch gar nicht. Als ich eben signiert habe, sind mir ich-weiß-nicht-wie-viele neue Namen begegnet. Da habe ich immer einen Fundus. Ein Problem können Nachnamen sein. Und da hat mein Kollege Paul Maar mal gesagt, er geht dann immer über Friedhöfe und guckt, was er auf den Grabsteinen für Namen findet. Das ist natürlich auch eine gute Methode.

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Was sind Ihre nächsten Pläne? Wird es einen zweiten Band von Sommerby geben oder vielleicht etwa ganz anderes? Wenn man so viele Anfragen bekommt ist das ja ein ganz tolles Gefühl, denn die Leute fragen ja, weil es ihnen gefallen hat. Da freut man sich natürlich als Autorin. Und außerdem hat es mir viel Spaß gemacht, das zu schreiben. Ich denke, das Schreib- und das Lesegefühl sind eigentlich immer das gleiche. Insofern hätte ich schon auch Lust auf einen zweiten Band. Beim Schreiben hatte ich aber nicht eine Sekunde dran gedacht und auch jetzt habe ich noch keine Fortsetzung im Kopf. Ich muss erst eine Idee haben, die trägt. Wenn mir das richtige einfällt, schreibe ich noch eine Fortsetzung. Sonst nicht.

Haben Sie eigentlich mal ein Schreibseminar oder so etwas besucht oder haben Sie sich alles selbst beigebracht? Ich habe Literarturwissenschaften studiert, ich habe sogar promoviert. Das heißt, ich habe einen Doktortitel in Literaturwissenschaften. Man will es gar nicht glauben, aber das stimmt. Und von daher weiß ich ein bisschen. Außerdem habe ich früher viele Drehbücher geschrieben für das ZDF-Kinderfernsehen. Und da spielt ja Dramaturgie eine unglaubliche Rolle. Es gibt auch diverse Drehbuch-Handbücher, durch die lernt man auch noch mal eine Menge. Das hilft einem, wenn es um Spannungsaufbau geht und Handlungsentwicklung.

Sie gelten als die erfolgreichste deutsche Kinderbuchautorin und haben schon viele Preise gewonnen. Hätten Sie sich jemals träumen lassen, dass es so kommen würde? Nein. Als ich mein erstes Buch geschrieben habe, war das ja gleich beim Oetinger-Verlag. Und dann bin ich da hingefahren, um den Vertrag zu machen, und da war ich so aufgeregt, das kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Das war ja der Verlag, bei dem Astrid Lindgren war und deren Bücher hatte ich ja immer toll gefunden. Und dann haben die Verlagsleute gefragt: „Was soll denn Ihr nächstes Buch werden?“ Da habe ich geantwortet: „Ich schreibe keines mehr.“ Und dann haben die gesagt: „Jaja, das hat Paul Maar auch gesagt. Warten Sie mal ab…“ (schmunzelt)

Und was ist dann passiert? Dann hatte ich plötzlich die nächste Idee. Ich denke, je mehr Du schreibst, desto mehr Ideen hast Du, weil Dein Gehirn darauf gepolt ist. Nein, ich hätte nie damit gerechnet. Und gerade deshalb ist es ja auch so toll. Und mit Sommerby ist es so ähnlich. Da habe ich nie gedacht, dass das erfolgreich wird. Ich dachte: Naja, das ist nur eine Sommergeschichte, wer weiß, ob das so viele Leute lesen mögen.

Ich denke, das hat damit zu tun, dass es im Sommer einfach Spaß macht, am Strand zu liegen oder in einer Hängematte im Garten, und Bücher zu lesen, die auch im Sommer spielen.  Ich finde, das ist megaentspannt. Ja, das Gefühl, das man beim Schreiben hat, überträgt sich auf die Leser. Für mich war das ein Sommergefühl – und das haben die Leser jetzt hoffentlich auch.

 Vielen Dank für das Gespräch!

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Meine Rezension von „Ein Sommer in Sommerby“, dem neuesten Buch von Kirsten Boie, findet Ihr hier.