
Titel: Papierklavier
Autorin: Elisabeth Steinkellner
Illustratorin: Anna Gusella
Verlag: Beltz & Gelberg
Erschienen: 2020
Seiten: 140
Maia ist 16 und hält in ihrem Tagebuch in kleinen Texten und mit coolen Zeichnungen fest, was in ihrem Leben so passiert. Dabei erfahren wir nebenbei ganz viel über sie: Maia lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter und den zwei kleinen Schwestern Ruth und Heidi in einer kleinen Wohnung. Ihre Mutter arbeitet sehr viel, um die Familie zu ernähren; wenn sie nach Hause kommt, ist sie wahnsinnig erschöpft und schläft oft schnell auf dem Sofa ein. Die drei Schwestern sind von drei verschiedenen Vätern, die sich aber alle nicht kümmern, weder mit Geld noch sonst. Maias Vater war fünf Jahre lang für Maia da. Dann kam er plötzlich nicht mehr nach Hause – er hatte einfach mit einer anderen Frau eine neue Familie gegründet. Maia kümmert sich um ihre Schwestern, sie legt sogar eine Extraschicht in ihrem Nebenjob ein, um der klavierbegabten Heidi die Stunden zu bezahlen. Da sie kein eigenes Klavier haben, übt Maias kleinste Schwester mit einer Tastatur aus Papier.
Der Beginn des Buches ist traurig, denn die Oma der drei ist gestorben. Wir erfahren dann, dass es eigentlich „nur“ eine Nachbarin war, aber es fühlte sich für Maia und ihre Schwestern so an, als sei Sieglinde tatsächlich ihre Oma gewesen. Heidi hatte bei ihr Klavier gelernt und ist oft bei ihr oben gewesen.
Wir erleben Maia bei ihrem Nebenjob in einer Smoothie-Bar. Bei der Arbeit wird sie von der Shopinhaberin via Kamera überwacht und als sie mal selbst einen Saft trinkt, bekommt sie sofort eine Nachricht auf’s Handy, dass ihr dieser Saft vom Lohn abgezogen wird. Wir erleben sie Zuhause, in der Schule – und mit ihren zwei besten Freundinnen. Alex sieht sehr gut aus. Sie ist schon ziemlich sexerfahren, hatte auch schon mal einen Dreier mit einem Jungen und einem anderen Mädchen. Alex ist auch Feministin: Nur Jungs, die überzeugend den Unterschied zwischen Vulva und Vagina erklären können, haben bei ihr eine Chance. Und als die Lehrerin sagt, dass alle „Schüler“ in den Bus steigen sollen, bleiben Alex und Maia aus Protest sitzen – weil sie sich als Mädchen vom generischen Maskulinum nicht angesprochen fühlen – und kassieren deswegen Ärger. I FEEL YOU…! Ich hasse es auch so sehr, wenn Lehrkräfte immer nur von „Schülern“ sprechen!!! Auch Maia macht sich an einigen Stellen im Buch Gedanken über die Rolle von Frauen in der Gesellschaft und wie sie von Männern betrachtet und behandelt werden.

Maias andere beste Freundin ist Carla. Sie ist schon Anfang 20. Die beiden sind auf der Straße zusammengestoßen und haben sich so kennengelernt. Carla ist trans und auch darüber macht Maia sich in ihrem Tagebuch Gedanken. Maia nennt auch öfter den Deadname von Carla (also den Jungennamen, den diese bei ihrer Geburt von ihren Eltern bekommen hatte). Eigentlich ist das natürlich total verboten und ehrlich gesagt, habe ich ein bisschen einen Schreck bekommen, als ich das las. Aber hier kommt es total realistisch rüber, denn Maia reflektiert darüber, dass Carla trans ist und was das bedeutet, und Carla selbst scheint damit auch keine Probleme zu haben, sie ist selbst noch mitten in ihrem Prozess und hat Maia ja auch ihren Deadname verraten.
Da Buch vermittelt eine Ahnung davon, wie beschissen das Leben ist, wenn deine Eltern keine Kohle haben und du total beengt wohnst und immer mehr oder weniger in den gleichen Klamotten herumlaufen musst. Und auch für das, was eigentlich noch viel schlimmer ist (und was auch manche (viele?) Kinder von Eltern mit Geld betrifft): Wie blöd es ist, wenn deine Eltern keine Zeit für dich haben! Das Buch vermittelt eine Ahnung davon, wie es ist, wenn du dich für deine Geschwister verantwortlich fühlst, wenn du selbst Lösungen finden musst, wie es ist, wenn du Mehrgewicht hast, wenn du trans bist. Es geht in „Papierklavier“ aber auch ums Sich-Selbst-Finden: Maia stellt fest, dass ihr Körper ok ist, dass sie ok ist. Sie findet heraus, womit sie später ihr Geld verdienen möchte (mit Zeichnen) und wie wichtig ihr ihre beiden Freundinnen Alex und Carla sind. Sie flirtet bei der Arbeit mit einem cuten Typen und hofft, dass er noch ein weiteres Mal in den Laden kommt und sie ihn nochmal sieht. Sie kreiert sogar einen neuen Saft für ihn und bekommt deswegen wieder Ärger. Gleichzeitig entwickelt sich über das ganze Buch eine zarte Annäherung mit einem Mitschüler und irgendwann wird einer beim Lesen klar: Das eine ist Schwärmerei, das andere Realität mit einer wunderschönen Perspektive – und das macht ein richtig schönes Gefühl im Bauch.
In „Papierklavier“ geht es um die Pubertät, aber nicht, wie oft in Büchern, um die erste Zeit der Pubertät, sondern um die letzte. Die Zeit, in der Alkohol trinken und Partys und Sex-Haben sehr wichtige Themen sind, in der es aber auch noch mal viel stärker um die Frage geht: Wer bin ich und wer will ich sein? Wo stehe ich in dieser Gesellschaft? Und wie finde ich eigentlich diese Gesellschaft?
Themen werden angerissen und nicht fortgeführt, was manchmal ein bisschen unbefriedigend ist. Aber „Papierklavier“ ist eben ein Tagebuch und darum passt das Anreißen und Zwischen-den-Themen-hin- und-herspringen sehr gut. Die verschiedenen Themen werden oft an anderer Stelle wieder aufgegriffen. Am Ende ergibt alles ein Gesamtbild und das ist MEGA!!!
Noch ein Wort zu den Zeichnungen: Ich finde die Gestaltung des Buches von Anna Gusella einfach großartig. Neben den Illustrationen kommen auch verschiedene Schriftarten zum Einsatz. Insgesamt sieht es dadurch wirklich aus wie ein Tagebuch! Unten könnt Ihr einige weitere Seiten daraus sehen.
Das Buch wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2021 nominiert. Verdient!
Ich gebe dem Buch ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ und einen 1/2 ⭐️ und empfehle es ab 14 Jahren.

