Heul doch nicht, du lebst ja noch

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Titel: Heul doch nicht, du lebst ja noch

Autorin: Kirsten Boie

Verlag: Oetinger

Seiten: 187

Erschienen: 2021

Es gibt einige Kinder- und Jugendbücher, die während der NS-Zeit oder auch während des Zweiten Weltkriegs spielen. In „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ von Kirsten Boie geht es jedoch um die Zeit kurz danach, im Mai und Juni 1945.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen drei ganz unterschiedliche Jugendliche. Da ist zum einen Friedrich, der eigentlich Jakob heißt. Er versteckt sich in den Ruinen des zerbombten Hamburg und ist dabei ganz allein, denn seine jüdische Mutter wurde von den Nazis mit dem letzten Zug, der von Hamburg ins KZ Theresienstadt ging, deportiert. Und der alte Mann, der ihn dort versteckte und mit Essen versorgte, ist spurlos verschwunden. Jakob traut sich erst aus dem Versteck, als er es vor Hunger nicht mehr aushält und braucht eine ganze Weile, um zu verstehen, dass der Krieg tatsächlich vorbei ist… Dann stellt er jedoch fest, dass man Lebensmittel nicht einfach so kaufen kann, sondern dafür eine Lebensmittelkarte braucht. Jeder und jedem steht eine bestimmte Menge Butter, Mehl etc. pro Woche zu. Der Kauf wird auf der Karte dokumentiert. So eine Karte erhalten jedoch nur Menschen, die offiziell registriert sind, was Jakob nicht ist. Dass es einen Schwarzmarkt gibt, auf dem Waren getauscht werden, erfährt er erst später.

Diesen Hunger, der zu jener Zeit so viele plagt, den kennt Traute kaum, denn ihren Eltern gehört eine Bäckerei. Allerdings wohnt nun eine fremde, vierköpfige Familie in ihrem Wohnzimmer, die aus Ostpreussen geflohen ist. Die Behörden haben sie dort einquartiert. Das Schlafzimmer ist der einzige private Rückzugsraum von Traute und ihren Eltern. Bad und Küche müssen sie teilen. Auch deswegen ist Traute oft draußen und beobachtet die Jungs, die dort Fußball spielen. Da ihre zwei besten Freundinnen spurlos verschwunden sind, würde sie gerne bei ihnen mitmachen, aber der Anführer der Gruppe ist dagegen.

Hermann ist meistens schlecht gelaunt, was mit seiner Situation zu tun hat. Vor nicht allzu langer Zeit war er noch ein stolzer Anführer bei der Hitlerjugend, aber das interessiert niemanden mehr. Schlimmer noch: Sein Vater ist aus dem Krieg zurückgekehrt. Auf dem Schlachtfeld hat er beide Beine verloren und nicht nur das: Auch seine gute Laune, seine Herzlichkeit und seinen Lebensmut. Er ist verbittert, voller Selbstmitleid und oft auch aggressiv. Hermanns Mutter organisiert das Leben für die Familie komplett alleine und kann mit dem Vater nichts mehr anfangen. Hermann muss ihn durch das Treppenhaus zur Toilette tragen (die war nicht in der Wohnung, sondern eine Etage drunter, im Treppenhaus, so war das oft damals) und seine Brüllerei ertragen und oft auch den Gestank, wenn er nicht schnell genug war. Hermann träumt davon, nach Amerika auszuwandern. Aber wie soll das gehen – sein Vater braucht ihn doch und die Mutter auch?

Schließlich klaut Traute aus der Backstube ein Brot, um damit Herman und die anderen Jungs zu beeindrucken, und deponiert es in einem Versteck. Dort findet es Jakob. So lernen die drei sich kennen. Es gibt auch noch einen weiteren Jungen, der etwas jünger ist und dessen Schicksal Kirsten Boie auch kurz umreisst: Er ist mit seiner Familie auf einem Schiff aus Ostpreussen geflohen und auf diesem Schiff ist seine kleine Schwester, die noch ein Baby war, verloren gegangen 😢

Das Buch von Kirsten Boie liefert ein Bild des damaligen Alltags. Wir erfahren, wie die Lebensumstände waren und welche Probleme es gab: Verlust, Trauer, Hunger, zerstörte Häuser und kaputte Familien. Männer, die psychisch zerstört (von dem, was sie erlebt und von dem, was sie selbst getan hatten) und oft auch körperlich verletzt, aus dem Krieg zurückkamen und dort ihre Frauen wieder trafen, die gelernt hatten, gut alleine zurecht zu kommen und entsprechend selbstbewusst waren. Der  Krieg war zwar vorbei, aber trotzdem war nichts gut.

Ich konnte „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ kaum aus der Hand legen, so sehr hat es mich in seinen Bann gerissen. Gelesen habe ich es bereits im letzten Jahr, als es den Krieg in der Ukraine noch nicht gab. Die Bilder aus der völlig zerstörten Stadt Mariupol von 2021 und die aus dem zerstörten Hamburg von 1945 ähneln sich jedoch. Auch heute gibt es viele Geflüchtete, sie werden und wurden jedoch niemandem von den Behörden zugeteilt, sondern werden/ wurden von manchen freiwillig in den eigenen Wohnungen aufgenommen.

Wenn Eure Großeltern bei Kriegsende Kinder waren, dann könnt ihr nach dem Lesen etwas besser verstehen, wie Ihr Leben damals aussah. So ging es mir jedenfalls. Was mir besonders gefiel: Das Buch ist manchmal traurig, aber das Ende ist in verschiedener Hinsicht gut.

„Heul doch nicht, du lebst ja noch“ erhält von mir ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️

Altersempfehlung: Ab 12 Jahren. Auch als Schullektüre super geeignet!

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