Ein halber Sommer

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Titel: Ein halber Sommer

Autorin: Maike Stein

Verlag: Oetinger

Band: —–

Seiten: 269

Erschienen: 2019

 

Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 riss Familien auseinander, aber auch Freundinnen und Freunde – und Liebespaare. In dem Buch „Ein halber Sommer“ kann man erfahren und auch ein bisschen nachfühlen, wie es damals gewesen sein muss.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen zwei 17jährige Mädchen – Lennie und Marie. Lennie, die eigentlich Helene heißt, lebt mit ihrer Mutter im Westteil der Stadt, in Moabit. Die Mutter betreibt einen Friseursalon und will nicht wahrhaben, dass ihr Mann (Lennies Vater) im Krieg gefallen ist. Ihr Wunsch ist es, dass Lennie einmal den Friseursalon übernimmt. Schon jetzt muss ihr die Tochter dort viel helfen. Lennie hat dazu keine Lust. Sie möchte lieber Uhrenmacherin werden, wie ihre Tante Ilse (die Schwester ihres Vaters). Ilse wohnt im Osten der Stadt, im Prenzlauer Berg, und Lennie besucht sie ab und zu. Lennie hat auch keine Lust ein typisches Mädchen zu sein. Wenn sie das Haus verlässt, stopft sie ihre Haare unter eine Wollmütze und tauscht ihren Rock gegen eine alte Hose. So könnte man Lennie auch für einen Jungen halten.

Die zweite Hauptperson im Buch ist Marie. Sie lebt mit ihrem Vater und ihrem 13jährigen Bruder Ecki im Ostteil der Stadt, in Mitte. Ihr Vater ist ein treuer DDR-Bürger und arbeitet in einem Ministerium. Er scheint die Propaganda zu glauben, was Marie nervt. Ihre Mutter ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Marie macht eine Ausbildung zur Theaterschneiderin, träumt aber davon Kapitänin eines Segelschiffs zu werden. Viele von Eckis Kumpels sind mit ihren Familien in den Westteil gezogen und Ecki trifft sich dort regelmäßig zum Fußballspielen mit ihnen. Und damit er nicht alleine „rüber“ muss, begleitet Marie ihn dort hin. Während er kickt, geht sie manchmal zum Aufnahmelager und überlegt, ob sie sich dort als DDR-Flüchtling melden soll. Das hieße aber, ihren Bruder und den Vater im Stich zu lassen, was sie nicht will. Im Mai 1961 stand die Mauer noch nicht. Trotzdem war die S-Bahn-Fahrt von einem Teil in die Stadt in den anderen nicht angenehm. Größeres Gepäck durfte zum Beispiel nicht mitgenommen werden, denn die DDR-Machthaber wollten verhindern, dass weitere Menschen in den Westen übersiedelten. Wie sich die Fahrt angefühlt haben muss, hat die Autorin sehr eindringlich geschildert: „Stille fiel über den Waggon. Man hörte nur noch das Rattern der Räder auf den Gleisen und ihr Verstummen nach dem Quietschen der Bremsen. Türen öffneten sich, schlossen sich mit einem Knall. Die Schritte der Grenzer hallten laut durch den Waggon, harte Stimmen verlangten nach Ausweisen. Alle, die größere Taschen oder gar Koffer bei sich hatten, wurden unweigerlich kontrolliert. Ecki saß ihr gegenüber still und steif auf der Holzbank. Dabei hatten sie beide nichts zu verbergen. Und auch kein Gepäck dabei. Marie strich den Rock über ihren Knien glatt. Die Stiefelschritte kamen näher (…). Die Schritte hielten auf ihrer Höhe inne. Kein falscher Blick jetzt. Nicht mal falsch atmen. Marie blickte auf die glänzenden Stiefelspitzen, die Bügelfalten der Hose. Sie zählte stumm vor sich hin. Bei zehn drehten die Stifel ab.“ (S. 14)

Als Marie an einem Nachmittag ihren Bruder mal wieder zum Fußballspielen begleitet und sich ein wenig in der Gegend herumtreibt, lernt sie Lennie kennen und verliebt sich sofort in sie. Und Lennie geht es ähnlich. Zwischen den beiden entwickelt sich schnell eine Liebesbeziehung, die sie aber vor ihren Familien verheimlichen. Es geht dann viel um die Sehnsucht, die beide verspüren – Sehnsucht nach einem anderen, selbstbestimmten Leben und gleichzeitig auch nach der jeweils anderen. Etwa in der Mitte des Buches wird die Mauer gebaut. Marie ist zu dem Zeitpunkt mit ihrem Vater und Bruder in Dresden.

„Im Radio – die sagen, da ist Stacheldraht – und Gräben – die machen die janze Grenze dicht – und – und – und wir dürfen da nicht mehr rüber und – ick meene, dit jeht doch nicht, wie sollen wir uns denne denn..“ Ecki ließ die abgehackten Pausen hinter sich und Worte rauschen aus ihm heraus, und Marie ließ ihn reden, obwohl sie nichts mehr davon hörte, weil sich in ihrem Kopf nur noch die Worte drehten: Wir dürfen da nicht mehr rüber.“ ( S. 132) Und auch wie Lennie auf der Westseite die Situation erlebt, lässt sich gut nachvollziehen:„Auch direkt vor den Menschen drüben standen Uniformierte. Die mussten einander direkt in die Augen blicken. Wie durch Watte hörte Lennie Stimmen laut werden. Manche schrien wütend, andere weinten ganz offen. Wären da nicht die Gewehre, könnten die da drüben einfach losrennen und über den Stacheldraht springen.“

Später im Buch versucht Marie in den Westen zu fliehen, weil sie ohne Lennie nicht mehr leben kann – und riskiert dabei ihr Leben…

Mir hat das Buch gut gefallen. Auffällig fand ich den Schreibstil der Autorin, den ich einfach toll finde. Zum Beispiel auf Seite 37:„Dunkelheit schmiegte sich ans Küchenfenster. Marie zog den Stöpsel aus dem Spülbecken. Das Dreckwasser gluckerte und gluckste weg. Sie wischte sich die Hände am Rock trocken und dreht sich zu Ecki um. „Hausaufgaben?“

Beide Protagonistinnen waren mir sympathisch. Auch ihre Familienmitglieder, die sich zwar nicht immer alle ok verhalten, die aber mit ihren Ängsten und Problemen sehr plastisch werden und damit auch ihr Verhalten etwas verständlicher. So erfährt man nebenbei auch, welche Auswirkungen der Zweite Weltkrieg (der zu dem Zeitpunkt als das Buch spielt, ja schon 15 Jahre vorbei ist) noch immer auf das Leben der Menschen damals hatte. So versucht Lennie einen Beweis dafür zu finden, dass ihr Vater wirklich gefallen ist, damit ihre Mutter endlich zur Ruhe kommen und ein neues Leben beginnen kann. Bei den Kapiteln wechselt die Perspektive. Mal erzählt Lennie, mal Marie. Ich hatte das Gefühl, dass ich ein bisschen mehr über Lennie erfahren habe als über Marie. Wieso Marie sich in Lennie verliebt und wie sie überhaupt so schnell wissen konnte, dass sie ein Mädchen vor sich hat und keinen Jungen (für den Lennie oft gehalten wird), das wird nicht erklärt. Sie scheint sich auch nicht darüber zu wundern, dass sie sich in ein Mädchen verliebt hat, während man bei Lennie nachlesen kann, dass sie verwundert darüber ist, dass es „andere“ gäbe, die so seien wie sie und dass sie tatsächlich ein solches Mädchen gefunden habe und sie sich ineinander verliebt haben. Gewundert habe ich mich, wie schnell die beiden sich verliebten und wie schnell sie auch sehr vertraut miteinander waren, obwohl sie sich ja gar nicht wirklich kannten.

In dem Buch kommen viele verschiedene Berliner Stadtteile vor. Viele der genannten Straßen kannte ich, das fand ich gut. Ich hätte es gut gefunden, wenn noch etwas mehr über das Leben in Berlin in der damaligen Zeit in der Geschichte erzählt worden wäre. Die Protagonistinnen berlinern relativ oft, wenn sie miteinander sprechen (denken aber auf Hochdeutsch). Das fand ich manchmal ein bisschen seltsam. Andererseits habe ich schon gehört, dass in den 60er Jahren in Berlin viel mehr berlinert wurde als heute, darum ist der Dialekt und das Verhalten wahrscheinlich einfach authentisch.

Das Cover zeigt die Berliner Mauer, die über und über mit bunten Graffitis besprüht ist. Das ist sehr schön bunt, was mir einerseits gefällt. Andererseits aber historisch auch nicht ganz richtig, denn damals war die Mauer natürlich noch nicht bemalt und besprayt. Und später war sie es dann auch nur auf der West-Seite, wohin Marie ja gar nicht kommen konnte. Vor der Mauer sieht man Marie und Lennie, die sich innig küssen. Als ich mir das Buch bestellt hatte, dachte ich, dass es sich vor allem um einen Berlin-Roman handeln würde. Als ich dann später das Cover gesehen habe, wurde mir klar, dass wahrscheinlich doch der Liebesaspekt im Vordergrund stehen würde und so war es dann ja auch. Wenn Ihr Euch für LGBTQ+-Bücher interessiert, guckt auf jeden fall mal bei meinem Lesebuddy Rebecca vorbei, die sich mit diesem Genre gut auskennt. Wir haben „Ein halber Sommer“ parallel gelesen. Ihre Rezension findet Ihr auf Instagram, ihr Profil heißt rebeccas.world.of.books

FAZIT: Ein (vor allem ab der Mitte) sehr spannendes Buch, das Einblicke in das Berlin des Jahres 1961 gibt und eine schöne Liebesgeschichte zwischen zwei Mädchen erzählt.

Ich gebe dem Buch ⭐️⭐️⭐️⭐️ und empfehle es ab 12 Jahren